Die Motte und das Zen
Die Situation unter Kontrolle haben, Wichtiges und Unwichtiges

Wenn man also sagt: "Wenn ich will, trete ich in tiefe Meditation ein", - fängt man schon an, sich zu täuschen. Tatsächlich befindet man sich nicht in tiefer Meditation. Man ist vollständig abhängig vom eigenen Wunsch: wenn der Wunsch auftaucht, tritt man in den Zustand ein. Das bedeutet, dass man nicht vom inneren Zustand getrieben wird, sondern von einem Wunsch. Man kontrolliert sich selbst nicht. Wenn jemand sagt: "Wenn ich will, werde ich meinen Verstand kontrollieren", - was soll denn das für eine Kontrolle sein? Eben deswegen sollte man versuchen, unverzüglich, eben in diesem Moment, zu praktizieren. Wenn ihr anfangt, sich an irgendwelche Fehler zu klammern, werdet ihr in den Fehlern versinken. Wenn ihr glaubt vor fünf Minuten etwas falsch gemacht zu haben, werdet ihr in diesen fünf Minuten bleiben. Aber ihr werdet nie in der Gegenwart sein. Deshalb kann keiner sagen, wie ihr morgen praktizieren werdet. Keiner weiß es. Nicht mal ihr wisst das. Alles, was man sagen kann, ist nur das, was ihr jetzt habt oder nicht habt. Aber niemand kann sagen, was ihr später erwerben werdet. Deshalb, wenn jemand meint, dass ihr für die Praxis unfähig seid, kann dies nur für den jetzigen Moment gelten. Niemand kann dies für das ganze Leben im Voraus behaupten.

Man sollte sich nicht von Umständen treiben lassen. Man sollte sich nicht von Begriffen steuern lassen. Ihr solltet die Begriffe selbst steuern. Wenn jemand sagt, dass ihr verpflichtet seid, irgendwelche Begriffe, Definitionen zu kennen, wollen diese Menschen, dass die Umstände euch kontrollieren. Wenn es zum inneren Verstehen kommt, dann werdet ihr selbst Begriffe steuern und ihr werdet in der Lage sein, einen beliebigen Begriff zu erläutern, wenn bei jemandem Bedarf besteht. Die Menschen verzögern nur ihre Praxis, wenn sie glauben, falls sie glauben, dass man erst bestimmte Begriffe und Definitionen lernen soll und nur dann praktizieren darf. Weil die Kenntnis der Begriffe und Definitionen uns keinen Schritt näher zur Praxis bringt. Im Gegenteil, in der Minute, in der ihr diese Begriffe und Definitionen lernt, könntet ihr schon praktizieren. Deshalb stehlen die Menschen die eigene Zeit, wenn sie dicke Bücher darüber lesen, was Meditation ist. Sie verlieren Zeit, anstatt in dieser Minute zu praktizieren. Wieso willst du jetzt nicht praktizieren?

Ich praktiziere.

Wie praktizierst du? Du sagst nur, dass du praktizierst, tust das aber selbst nicht. Versuche sowohl zu praktizieren als auch zu sagen "ich praktiziere" - dann wird das Praxis sein. (Gelächter) Aber vorzugreifen schaffst du auch nicht.

Nur wenn du selbst irgendwelche äußere Umstände in dich hereinlässt, werden sie dich steuern. Nur nach deinem Einverständnis. Deshalb kann nichts deine Praxis stören, genauso wenig wie etwas deiner Praxis helfen kann. Welcher Umstand kann deiner Praxis helfen? Etwa die Kenntnis irgendwelcher Begriffe und Worte? Etwa eine bestimmte Energiemenge? Keine Energie wird deiner Praxis helfen, denn dann wird die Energie dich steuern. Wenn du im jetzigen Moment praktizierst, wirst du die Energie steuern. Wenn du nicht praktizierst, wirst du von deiner Atmung gesteuert; wenn du praktizierst, steuerst du die Atmung, unabhängig davon, wie sie ist.

Noch Lao-Tse schrieb in "Daodejing": "Ein freier Mensch kann sich unterordnen oder weggehen - das spielt keine Rolle". Es gibt keinen Grund, der euch daran hindern würde, jetzt zu praktizieren. In einem Moment könnt ihr euch jedoch an irgendetwas klammern und sagen: "Dies ist wichtig für mich". Ihr trefft die Wahl selbst, eigenwillig. Zu einem Zeitpunkt klammert sich der Mensch, von mir aus an irgendjemanden und sagt: "Er ist für mich wichtig". Dann kommt die Sättigung und er sagt: "Nein, die Lebenspartnerin ist für mich nicht mehr wichtig. Jetzt ist für mich dies und jenes wichtig". Woher kommt diese Wichtigkeit? Sie kommt aus dem Nichts. Objektiv existiert sie gar nicht. In einem bestimmten Moment entscheidet ihr selbst, was für euch wichtig ist. Angenommen, Karriere ist euch jetzt wichtig - und sie wird tatsächlich für euch bedeutend. Dann denkt ihr: "Nein, ich werde diesen Arbeitsplatz verlassen. Dies und jenes wird für mich wichtig sein". Ihr entscheidet das selbst - um dann eigenwillig darunter zu leiden, dass ihr euch selbst so eingeschränkt habt.

Wenn ihr also meint, dass es euch wichtig ist, zuerst zu verstehen, wie man praktiziert, dass ihr erst im Kopf ein Bild zusammenstellen musst, um später zu praktizieren, wird es in der Tat wichtig für euch, ihr habt das selbst gewählt. Das war eure freie Entscheidung. In dem Moment, in dem ihr entschieden habt, dass die Meinung irgendwelcher Menschen wichtig für eure Praxis ist, habt ihr euch selbst Schranken gesetzt: diese Menschen sind tatsächlich in eurem Leben wichtig geworden. Ihr habt das selbst gewollt. Wie kann man sich dann darüber wundern, dass jemand anfängt, euch zu kontrollieren?

Genauso ist es absolut irrelevant, wie lange eure Abhängigkeit Bestand hatte. Von einem Moment zum anderen könnt ihr es euch anders überlegen und sagen: "Schluss, ab jetzt habe ich das Sagen". Nichts wird verschwinden, alle Umstände werden dieselben bleiben. Dahinschwinden wird jedoch das, was ohnehin nicht existiert hat - die Wichtigkeit. Diese Bedeutsamkeit löst sich auf, nichts von ihr bleibt übrig. Sowohl sozialer Status als auch weltliches Ansehen sind von derselben Wichtigkeit, von derselben Bedeutsamkeit. Dies ist eine Bedeutsamkeit, welche objektiv nicht existiert. Keiner kann zeigen, wo dieses Ansehen ist und worin es besteht. Wie werdet ihr dann praktizieren können, wenn ihr der Meinung der Gesellschaft folgt, wenn ihr so unselbstständig seid?

Viele fassen es so auf, als ob sie die Beziehungen zu der Gesellschaft ignorieren müssen. Das Verhältnis anderer ihnen gegenüber anfänglich beachten und dann plötzlich ignorieren. Zulassen, dass man missachtet wird, und dann so tun, als ob nichts passiert wäre. Zulassen, dass jemand sie herumkommandiert, und dann sagen: "Tja, das ist mir nicht wichtig". Aber das Ignorieren einer Tatsache bedeutet kein Losgelöstsein: all das bleibt euch trotzdem wichtig und ihr ordnet euch dieser Wichtigkeit blind unter. Wenn ihr jedoch begreift, dass diese Wichtigkeit tatsächlich auf nichts beruht, dass es keine reale Grundlage für deren Existenz gibt; wenn ihr begreift, dass dies eure eigenständige Entscheidung war, und dass es keinen objektiven Grund gibt, wieso es so sein sollte - werden diese scheinbaren Wichtigkeit und Bedeutsamkeit aufhören für euch zu existieren. Deswegen hat jeder Mensch seine eigene Wichtigkeit: der eine hält dieses für das Wichtigste in der Welt, der andere jenes. Deshalb gibt es so viele unterschiedliche Menschen und so viele unterschiedliche Bedeutsamkeiten, so viele unterschiedliche Ideologien, Weltanschauungen.
(In diesem Moment flog eine Motte durch das Zimmer)

Wie kann man stetig praktizieren, wenn ihr nicht mal in der Lage seid, sich innerlich auf der Vorlesung zu sammeln? Eine Motte flog vorbei - und dies ist euch wichtig. Für manch einen war das eine Sekunde zuvor nicht wichtig, aber jetzt schaut er auch auf die Motte, wie alle anderen.

Es geht nicht darum, dass man etwas tun oder etwas nicht tun soll: es ist lediglich überhaupt nicht notwendig, dies als bedeutend anzusehen. Aber das bedeutet nicht, nachlässig zu sein. Etwas nachlässig zu tun, heißt ignorieren. Wenn ihr etwas als bedeutend anseht und dann nachlässig handelt, ist dies eine besonders sadistische Handlung, eine besondere Selbstfolter. Wenn ihr etwas gut tut, könnt ihr zumindest ein Ergebnis bekommen, aber so bekommt ihr gar nichts. Was musst du jetzt deshalb tun? So schweigst du - anstatt zu praktizieren. Man soll nicht schweigen - man soll praktizieren.

Unser Mitstreiter hat sich irgendwo unter einer Bank verkrochen und denkt, dass man ihn nicht bemerkt. Und wenn man ihn nicht bemerkt, dann wird das schon irgendwie durchgehen und man wird keine Verantwortung für sich selbst übernehmen müssen. Soll etwa deine Praxis nur dann vorangehen, wenn man dich antreibt? Was hindert dich daran, jetzt zu praktizieren?

Er ist ein Jurist, er versucht die ganze Zeit beide Seiten zufriedenzustellen: einerseits den guten Ton zu wahren, andererseits zu praktizieren. So tun alle Juristen: sie können nicht bei einer Sache bleiben, sie versuchen, überall einen Kompromiss zu finden. Im Ergebnis gibt es weder Fisch noch Fleisch. Wer hat dich eingeschüchtert? Geh mal lieber in die Küche. Hier sitzt du sowieso ohne Nutzen. Geh mal, hol etwas Wasser zum Trinken. Praktizieren muss man ja nicht unbedingt auf dem Teppich sitzend...
(Der Schüler geht in das Zimmer herein)

Wem soll ich Wasser holen?

Allen, die es brauchen. Finde das durch deine Intuition raus. Und mach bloß keinen Fehler.
(Der Lehrer wendet sich den Zuhörern zu und fährt fort)

Solche Praxis spaltet uns nur - anstatt ganzheitlich zu machen. Deshalb werden Menschen, die auf diese Weise praktizieren, schlechter als sie zuvor waren. Sie stumpfen sogar ab durch solche sogenannte Praxis. Was soll das für eine Praxis sein, die zur geistigen Abstumpfung führt? Und was ist das für eine Praxis, die nur zu zusätzlichen Konflikten führt? Was ist eure spirituelle Vervollkommnung dann wert? Wenn zusätzliche Konflikte herbeigeführt werden, bedeutet dies, dass ihr falsch versteht, worin die Praxis besteht. Wenn zusätzliche Spannung in euch auftaucht - was ist das für eine Gedankenlosigkeit? Ist das etwa Spontanität und Natürlichkeit?

Der Fehler liegt gerade darin, dass ihr versucht, etwas Besonderes zu tun. Konkret, wenn ihr eure Kenntnisse zu demonstrieren beginnt und sich dadurch herkömmlichen Menschen gegenüberstellt. Was ist das für eine Praxis? Die Praxis ist keine besondere Errungenschaft. Worauf soll man dabei stolz sein und was soll man hier verbergen? Alle Menschen essen und schlafen. Genauso ist die Praxis - ein ganz natürliches Phänomen. Kein Mensch ist ja darauf stolz, dass er jede Nacht schläft, dies ist eine ganz natürliche Tatsache. Warum sollte man sich dann den anderen gegenüberstellen, indem man seine Praxis zur Schau stellt? Das ist es, was Konflikte herbeiführt. Ein Ego kollidiert mit dem anderen - ein Konflikt entsteht. Jedes Ego versucht zu expandieren, immer neue Stellungen einzunehmen, es strebt zum Selbstwachstum. Zwei solche Egos kollidieren miteinander und keins will nachgeben. Hieraus entsteht ein Konflikt: in erster Linie dadurch, dass ihr nicht bereit seid nachzugeben, auf das eigene Ego zu verzichten. Man muss nicht warten, bis jemand beginnt, euch gegenüber Zugeständnisse zu machen. Warum nicht als erster ein Zugeständnis machen? Dann wird der Konflikt verschwinden - ihn wird es einfach nicht mehr geben.

Wenn ein Mensch etwas für wichtig erachtet und ein anderer etwas für wichtig erachtet, versucht jeder sein Eigentumsrecht auf einen bestimmten Gegenstand geltend zu machen. Ein Eigentumsrecht, welches aber tatsächlich nicht existiert. Wie kann zum Beispiel ein Mensch einen anderen oder ein anderes Lebewesen besitzen? Ein Eigentumsrecht ist imaginär, es existiert nicht in der Realität. Dieses Recht ändert nichts: jedes Lebewesen wird gleichwohl an sich existieren. Wenn es sogar ein Papier gibt, worauf steht, dass dieses Individuum jenes besitzt - was wird dadurch verändert? Die Natur dieses Gegenstands oder dieses Wesens bleibt wie bisher.

Genauso kollidieren dauernd Eigentumsrechte unterschiedlicher Leute. Ihr seid der Überzeugung, dass die anderen so leben müssen, wie ihr es wollt, und jene Menschen wollen, dass ihr so lebt, wie sie es für richtig halten. Mehrere Eigentumsrechte auf ein einzelnes Leben kollidieren - es entsteht ein Konflikt. Dann gebt mal nach, macht ein Zugeständnis als erste, und der Konflikt wird sich auflösen. Ansonsten wird er zusätzliche Kräfte binden, die man für eure Praxis aufwenden könnte. Dadurch werdet ihr nicht in der Lage sein, in dieser Zeit zu praktizieren. Diese Anspannung wird immer mehr und mehr Kräfte fordern. Warum soll man eine solche Anspannung schaffen - anstatt zu praktizieren? In erster Linie stört sie euch selbst. Und auch den anderen wird sie nicht helfen. Wenn der Konflikt jedoch verschwindet, dann kann auch die Gegenseite euch nicht mit Aggression erwidern, denn man wird nichts erwidern können.

Wenn ihr einen Konflikt kreiert, dann handelt ihr nur im Rahmen des Konflikts: eine Aggression gegen eine andere. Jemand gewinnt und jemand verliert, oder alle verlieren oder alle gewinnen. Aber warum müsst ihr euch unbedingt dadurch binden? Warum muss einer unbedingt verlieren und der andere gewinnen? Warum muss einer den anderen unbedingt platt machen? Dies wird niemandem Nutzen bringen - weder euch noch dem anderen. Aber nachgeben bedeutet nicht ignorieren, da ihr damit dann trotzdem zulasst, dass euch jemand "anspuckt". Ihr macht dann das Gesicht sauber und tut so, als ob nichts passiert wäre. Man darf nicht zulassen, dass euch jemand "bespucken" kann. Man darf nicht zulassen, dass euch jemand in einen Konflikt drängt. Lässt nicht zu, dass ein Konflikt überhaupt erst geschaffen wird. Lasst nicht zu, dass jemand irgendwelche Eigentumsrechte auf euch durchsetzen kann. Wenn niemand das auch nur versuchen wird, dann wird es auch keinen Konflikt geben. Der Krieg bleibt aus.

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